Reisen erweitert den Horizont, es bildet und sorgt für interkulturellen Austausch. Aber es dient nicht nur denjenigen, die sich auf den Weg machen. Profitieren tun auch die Gastgeber:innen. Denn der Tourismus ist ein riesiger Wirtschaftszweig und in vielen Regionen der Welt ein bedeutender Arbeitgeber. Eine rundum gute Sache also? Leider nicht! Denn wie wir alle wissen, trägt das Reisen auch in beträchtlichem Maße zu Umweltproblemen bei. Und auch wenn viele Menschen gerne nachhaltiger reisen wollen, scheitert dieses Vorhaben oft schon bevor das erste T-Shirt im Koffer gelandet ist.
Lilith Diringer und Jeroen-Niclas Trzaska wollen das ändern – und haben mit ChargeHorizons ein Purpose-Unternehmen gegründet, das gleich mehrere wichtige Hebel betätigt. Sie haben eine nachhaltige und transparente Buchungsplattform (inkl. App) entwickelt, bieten Coaching und Nachhaltigkeitschecks für Unterkünfte an und erreichen mit Bildungsarbeit auch kleine Nachwuchs-Traveller. Im Interview erzählt Lilith, wie die Idee für das Unternehmen entstand, warum ihre Arbeit viel mit Selbstermächtigung zu tun hat und wie sie Vorurteile gegenüber nachhaltigem Reisen aus der Welt schafft.
Lilith, auf eurer Website schreibst du, dass die Themen Nachhaltigkeit und Reisen dich schon lange begleiten. Erzähl doch mal, wie es dazu kam!
Schon während meiner Schulzeit war ich oft unterwegs – wegen Wettbewerben wie der Biologieolympiade oder dem International Physicists’ Tournament – und habe in ganz unterschiedlichen Unterkünften übernachtet. Dabei ist mir aufgefallen, wie groß die Unterschiede im Bereich Nachhaltigkeit sind. Ich habe dann angefangen zu recherchieren, selbst mal bei Unterkünften nachzufragen: Wo kommen die Brötchen her? Gibt’s Kooperationen mit lokalen Bauern? Ist Mikroplastik im Shampoo? Und da wurde schnell klar: Es fehlt oft einfach an Wissen. Gleichzeitig gibt’s über 150 Nachhaltigkeitssiegel im Tourismussektor – das macht es super unübersichtlich und viele Reisende verlieren so das Vertrauen. Dabei hat eine große Studie von booking.com gezeigt, dass 83 % der Menschen eigentlich nachhaltiger reisen wollen, sich aber machtlos fühlen. Das wollte ich ändern.
Und wieso war für dich klar, dass du dafür ein eigenes Unternehmen gründen möchtest?
Ich sehe bis heute kaum Initiativen, die das Thema wirklich so angehen, wie es nötig wäre. Es gibt zwar ein paar wenige Tourismusorganisationen, die sich mit Nachhaltigkeit beschäftigen – aber ohne die Reisenden zum Teil der Lösung werden zu lassen. Deshalb war für mich schnell klar: Ich will da etwas Eigenes aufbauen und wirklich etwas bewegen. Und das Gründen an sich war für mich nicht so fern – ich hab schon in der Schulzeit bei „Jugend gründet“ einen Sonderpreis bekommen und verschiedene Gründungsformate kennengelernt. Dadurch war die Idee, ein Unternehmen zu starten, greifbarer für mich als vielleicht für andere.

Im Kern eurer Arbeit bei ChargeHorizons steht die Plattform ChargeHolidays, zu der auch eine App gehört. Was hat es damit auf sich und was ist das besondere an diesem Angebot?
Die App trägt vor allem zur Selbstermächtigung von Reisenden bei – und dazu aus dem Siegel-Dschungel rauszukommen. So haben wir einen “Traumfänger” entwickelt, der in sieben Kategorien darstellt, wie eine Unterkunft in Bereichen wie soziale Nachhaltigkeit, Abfallmanagement usw. abschneidet. Man kann dann schauen, welche Bereiche einem selbst besonders wichtig sind, zum Beispiel Mobilität. Aber es geht auch nicht nur darum, Unterkünfte zu finden. Mit der App kann man wirklich seine komplette Reise durchplanen. Das heißt, es ist so eine Art Travel Companion, den man dabei hat und der einem helfen soll, die Reise so leicht wie möglich zu machen – und eben auch noch nachhaltig.
Selbstermächtigung bedeutet auch, dass ihr den Austausch zwischen Gast und Unterkunft fördert und dazu anregt, den Unterkünften Feedback zu ihrer Nachhaltigkeitsleistung zu geben – richtig?
Absolut! Wir wollen weg von diesem: „Fünf Sterne, weil der Whirlpool war warm“, hin zu so etwas wie: „Ich gebe drei Sterne, weil das vegane Buffet richtig gut war und es einen Rabatt gab für Gäste, die beim Essen keine Lebensmittelabfälle produziert haben. Was ich aber nicht gut fand: kein Strom aus erneuerbaren Energien.“ Also, dass man Lust bekommt, selbst so ein bisschen Detektivarbeit zu leisten – und dieses Feedback dann auch zurückzugeben. Und das unterstützt im Sinne von Crowdsourcing wieder andere, die reisen möchten. Gerade für Menschen mit Behinderung ist das wichtig. Denn ganz oft gibt’s bei Unterkünften ja zum Beispiel nur ein Rollstuhl-Icon – und das war’s. Dabei kann schon eine kleine Beobachtung, z.B. zur Breite der Eingangstür, anderen Personen einen entspannten Urlaub ermöglichen.
Und wie profitieren die Unterkünfte davon?
Viele Unterkünfte trauen sich nicht darüber zu reden, was sie bereits Nachhaltiges machen, weil sie Angst haben vor Greenwashing-Vorwürfen. Das brechen wir auf und bieten ihnen mit ChargeHolidays eine wirklich transparente Darstellungsweise. Und wir laden sie dazu ein, ehrlich zu kommunizieren, wenn sie in bestimmten Bereichen noch nicht so weit sind. Wichtig ist auch, sich in Zusammenarbeit mit uns klare Ziele zu setzen, zum Beispiel was Müllvermeidung betrifft. Solche Ziele braucht es, um auch weiterhin Fortschritte zu machen. Gleichzeitig verhelfen wir den Unterkünften, die bereits viel Gutes tun, zu mehr Sichtbarkeit – etwa über Blogbeiträge oder Podcasts.
Das klingt nach einem super Ansatz! Welche Herausforderungen begegnen euch denn bei eurer Arbeit?
Ich glaube, die größte Herausforderung ist wirklich die schiere Größe des Sektors. Jede zehnte Person weltweit arbeitet im Reisesektor. Die Frage ist: Von welcher Seite kann der Druck kommen, damit sich wirklich etwas verändert? Und da braucht es ganz klar einen multiperspektivischen Ansatz. Wir versuchen zum Beispiel, die Reisenden zu sensibilisieren und zu motivieren. Wenn verschiedene Kund:innen und Kooperationspartner:innen laut werden, entsteht echter Handlungsdruck. Wichtig ist aber auch die Seite der Mitarbeiter:innen. Wenn die Fachkräfte von morgen im Bewerbungsgespräch sagen: „Wie steht’s um eure Nachhaltigkeit?“ – dann wird auch das zum Einflussfaktor. Gerade in einem Sektor mit großem Fachkräftemangel ist das ein riesiger Hebel.

Und wie sieht es auf Ebene der Reisenden aus – welche Herausforderungen gibt es da?
Das sind vor allem diese eingefahrenen Stereotype über nachhaltiges Reisen. Da muss wirklich noch viel Aufklärungsarbeit geleistet werden. Viele Menschen, mit denen wir sprechen, sagen erst mal: „Oh, interessantes Thema“, und dann kommt sofort: „Ja, aber nachhaltig heißt doch teuer“, oder: „Nachhaltigkeit bedeutet Verbote – da darf ich keinen Spaß mehr haben.“ Diese Bilder aus den Köpfen zu bekommen und stattdessen zu Verhaltensänderungen zu inspirieren, die Spaß machen, das haben wir uns auf die Fahne geschrieben.
Ihr habt euren Unternehmenssitz in Buxtehude – und damit in der Metropolregion Hamburg. Wie erlebst du die Region bzw. Hamburg als Ort für Social Entrepreneure?
Hamburg erlebe ich als ein sehr schönes Netzwerk! Man merkt, dass man Leute oft zwei- oder dreimal treffen muss – und das wird durch die vielen Aktivitäten hier in Hamburg auch möglich: Beim ersten Treffen bekommt man Inspiration, beim zweiten mehr Austausch und beim dritten vielleicht schon eine Kooperation. Das ist sehr schön, gerade wenn man den Spirit und die Motivation bei den Veranstaltungen spürt. Und es gibt viel Raum, Neues einzubringen. So konnten wir schon bei verschiedenen Veranstaltungen unsere Expertise teilen, zum Beispiel beim “Impact Lunch” oder beim “Girls’ & Boys’ Day”. Das ist toll, weil man so nicht nur Konsument:in ist, sondern auch Impulse geben und andere inspirieren kann.
Und wie sieht eure Vision für die Zukunft aus?
Wir überlegen gerade stark, nochmal eine Crowdfunding-Kampagne oder Ähnliches zu starten – vor allem um mehr Menschen zu erreichen. Und wir wollen mehr Lust darauf wecken, dass Leute die Unterkünfte wirklich bewerten und sich auf eine Art Detektivreise begeben. Deshalb arbeiten wir gerade intensiv daran, in unserer App die Funktionen für Feedback und Bewertungen weiter auszubauen und besser zu strukturieren. Mein Wunsch wäre außerdem, weniger Dialoge mit Hoteliers und Gastgeber:innen führen zu müssen, in denen sie sagen „Spannend, aber wir sind am Limit, wir schaffen das nicht”. Ich würde mich freuen, wenn Betriebe zu einem sozialeren, angenehmeren Arbeitsort werden, in dem mehr Freiraum geschaffen werden kann. Denn den braucht es, um sich mit diesen wichtigen Themen wirklich auseinanderzusetzen und gemeinsam mit Reisenden eine nachhaltigere Zukunft zu gestalten.
Vielen Dank für das Gespräch, Lilith!
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Foto-Credits: Claudia Höhne, Jasper Ehrich, ChargeHorizons (Lilith Diringer)